Freikörper-Campingplatz in Auenstein: Sie trotzen der Hitzewelle mit nackter Haut
Was tun gegen heisse Temperaturen? Am besten alles ausziehen, finden Toni, Ulli und Daniel von «Heliosport Aargau». Nackt fühlen sie sich am wohlsten. Augenschein bei einem Verein, der manchmal strauchelt – trotz der übersexualisierten Gesellschaft unserer Zeit.
Noch trägt er Kleidung, Anton Möckel, der am Mittwochmorgen vor dem Volg aus seinem Auto steigt, zur Begrüssung die Hand reicht und sagt: «Ich bi dä Toni.» Wenn es über die Freikörperkultur-Szene etwas als Erstes zu lernen gibt, dann dies: Wer sich vor anderen freimacht, möchte dabei ungern gesiezt werden.
An einem Südhang, oberhalb des 1600-Seelendorfs Auenstein nahe Rupperswil, betreibt der Verein Heliosport Aargau eine eigene Naturisten-Anlage mit Campingplatz. Hier sonnen sich die Mitglieder, oder sie lesen, spörteln, plaudern und spielen. Ohne Kleidung, versteht sich. «Wir zeigen uns nicht nackt», heisst es auf der Website, «wir leben nackt.» Gut abgeschirmt, freilich, wie sich weist, als wir nach kurzer Fahrt am Ende des staubigen Feldwegs stehen – vor einem Eingangstor, an dem mehrere Illustrationen die Naturisten-Zone andeuten.
Jugendliche glaubten, auf dem Camping gehe es hemmungslos zur Sache
Für Menschen wie Toni endet beim Naturismus die gesellschaftlich normierte Schamzone, die Freiheit beginnt. Für die meisten dürfte es nach wie vor umgekehrt sein. Zumindest legen das die Zahlen nahe: 6000 Mitglieder sind schweizweit in Naturismus-Vereinen registriert, also bloss ein halbes Prozent der Bevölkerung.
Weshalb?
Nie war es einfacher, an Bilder oder Videos mit nackten Körpern zu kommen, dazu reichen heute ein paar Klicks. Und nie war die Hemmschwelle tiefer, im Nebel des Internets Privates oder gar Intimes preiszugeben. Aber enthüllte Brüste, Hintern oder Penisse auf einem Campingplatz im Grünen? Das möchten sich die meisten lieber nicht zumuten.
Viele Menschen würden Nacktheit unweigerlich mit Sexualität verknüpfen, erzählt Toni, inzwischen entkleidet, als wir auf der Terrasse unter einem der Sonnenschirme sitzen. Vielleicht, weil es ihnen so vorgelebt worden sei, «weil man die Eltern nie ohne Kleidung sah, ausser, wenn sie aus dem Schlafzimmer huschten.»
Erst wenige Wochen ist es her, da musste er eine Gruppe Jugendlicher enttäuschen, die am Tag der offenen Türe vorbeikam, um endlich mal zu sehen, ob die Nackten auf ihrem FKK-Gelände sich tatsächlich ungehemmt lieben.
Auch würden Männer beim Probebesuch häufig die Befürchtung äussern, durch die Anblicke erregt zu werden. «Das ist bloss Kopfkino», sagt Toni, der zu bedenken gibt, Naturist werde man nicht von heute auf morgen. Er meint damit den Prozess, den es brauche, um dieses sexualisierte Muster zu durchbrechen. Um sich, mit etwas Überwindung, auch ohne Kleidung ganz natürlich und selbstsicher zu bewegen, was auch bedeute, seinen Körper so anzunehmen, wie er ist. Toni sagt: «Für uns hat jeder Mensch eine perfekte Figur.»
Die Kleider sind weg – und das Reizempfinden?
An diesem Morgen wirkt die Stimmung auf dem Campingplatz ruhig und unaufgeregt. Eine Frau hängt neben ihrem Wohnwagen Wäsche auf, eine andere pflückt Blumen. Auf der Terrasse kreuzt uns ein Männertrio. Toni fragt: «Händer guet zmörgelet?» Gegenüber der AZ hat er vor ein paar Jahren einmal gesagt: «Wir kennen uns alle nackt. Da schauen wir einmal hin. Und dann hat man alles gesehen». Ohne Kleidung verliere der Mensch äusserlich an Reiz, «man sieht ja alles.»
Aber ist es so einfach? Können Menschen ihre Kleider ablegen und mit dazu ihr Reizempfinden? Lässt sich Anziehungskraft steuern?
«Dieser Teil funktioniert überall gleich», sagt Toni, und meint damit die Liebe, die unter Vereinsmitgliedern eben auch entstehen kann, wenn es passt. Dreimal dürfe man raten, wo er seine Frau kennen gelernt habe.
Zum Thema Hormone sagt Toni noch Folgendes: Wer auf den Campingplatz komme, weil er oder sie glaube, hier könne man ungestört «geile Frauen und Männer anschauen», sei am falschen Ort. Tagesgäste müssen sich mit Vor- und Nachname registrieren, Neumitglieder werden in mehreren Gesprächen zu ihren Haltungen und Neigungen befragt. Nicht zuletzt, weil sich auch Kinder auf dem Areal aufhalten. Zu zwei langjährigen Campern habe er eines Tages sagen müssen: «Gib deinen Schlüssel ab, dort ist die Tür.» Wiederholt war anderen Mitgliedern anstössiges Verhalten aufgefallen. Bei Heliosport Aargau schauen sie sich bald einmal nicht mehr gegenseitig auf die Geschlechtsteile – auf die Finger aber schon.
Ulli verbringt den Sommer «im Paradies»
Im Clubhaus treffen wir Ulli. Die 82-jährige Deutsche sitzt auf einer Holzbank, unter ihrem Unterarm ist ein Appenzellerland-Puzzle in Entstehung. Postkarten-Romantik in Tischgrösse. Immer wieder «kribbelt es sie in den Fingern» aufs Neue, an manchen Tagen sucht sie bis zu 14 Stunden nach passenden Teilchen.
Inzwischen hat Ulli auf dem Campingplatz «Chläb» etwa 6000 solcher Puzzles gelöst. Kein Wunder: Sie ist ja auch schon lange dabei. Gegründet wurde Heliosport Aargau im Jahr 1951, sie trat 1963 bei – vor 59 Jahren. «Ich hab' schon viele Präsidenten durch», kommentiert sie die Vereinsentwicklung, «und zwei Schwimmbäder.»
Sauniert habe sie seit je her gerne, sagt Ulli. «Da war es zum Naturismus kein grosser Sprung.» Längst ist sie pensioniert und verbringt am liebsten den ganzen Sommer hier. Früher jedoch arbeitete sie noch in Süddeutschland als Telefonistin, kam nur fürs Wochenende in den Aargau, und immer, wenn sie am Freitagmittag die Arbeit niederlegen durfte, sagte sie sich: «So. Jetzt fahr ich in mein Paradies.»
Immer angezogen – nie nackt
Ulli gehört unter den 270 Vereinsmitgliedern zu den langjährigsten. Die Älteste aber ist sie nicht. Die Spanne reiche von einjährig bis neunzig, sagt Toni. Gewachsen sei der Verein in den letzten Jahren indes kaum noch: Der Grossteil der Mitglieder ist zwischen 50 und 70 Jahre alt, die bestehende Zahl zu halten, sei Herausforderung genug. «Die demografische Entwicklung lässt grüssen.»
Heliosport Aargau sieht sich als Familienverein. Tatsächlich aber haben die meisten Mitglieder diese Phase längst hinter sich. Eltern mit Kindern gibt es auf dem Areal kaum, am Morgen des Besuchs ist eine Familie anzutreffen. Toni sagt, Kinder seien eigentlich nur vor Ort, wenn Mitglieder ihre Enkelinnen und Enkel mitbrächten.
Weshalb fehlt eine Generation?
Toni kann nur mutmassen: «Vielleicht finden die heutigen Eltern den Zugang zum Nacktsein nicht mehr so.» Ähnlich ging das manch einem Mitglied früher selbst, als die Freikörperkultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkam und sich erst noch etablieren musste. Toni erzählt von Mitgliedern, die ihre Eltern nie nackt sahen, bis diese im Alter gepflegt werden mussten.
Auch Naturisten von anderen Vereinen besuchen den Campingplatz «Chläb»
Bei den Pingpong-Tischen treffen wir Daniel. Der 57-Jährige aus dem Zürcher Unterland spielt mit zwei Kumpels, und als ihm ein Ballwechsel unerwartet entgleist und er sich wundert, zumal er diesen Punkt «schon fast im Sack» gehabt habe, entgegnet einer: «Wie das denn, ohne Hose?»
Daniel gehört eigentlich dem Verein Sonnenbad Rehwinkel in Oberglatt an. Weil er zudem Mitglied beim Schweizer Naturisten Verband (SNU) ist, der Dachorganisation, kann er schweizweit auch die Gelände der anderen Naturistenvereine besuchen. Von vierzehn besitzen acht eine eigene Anlage.
Nun haben er und seine Frau mit einem befreundeten Paar und zwei Kumpels eine Woche Ferien auf dem Campingplatz «Chläb» gebucht. Weil auf dem Gelände seines Stammvereins in Oberglatt kein Camping erlaubt ist, überlegt sich das Ehepaar nun, hier in Auenstein Mitglied zu werden und eine kleine Holz-Blockhütte zu kaufen.
Keine Kleidung zu tragen, setzt Daniel mit Freiheit gleich. «Für mich ist Nacktsein die natürlichste Lebensform.» Während er erzählt, naht langsam der Mittag, immer erbarmungsloser brennt die Sonne auf die Steinplatten. Ob wir in den Schatten stehen könnten, frage ich in die Runde, und Toni, der daneben steht, sagt «klar». Dabei hat er das Problem für sich längst erkannt: «Du häsch äfach z vill aa.» Vielleicht.
Webseite des Vereins: Heliosport Aargau Auenstein